Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Wien, Salzburg 2019 (4. Auflage).

5 Sterne

 

Das Buch ist die passende Lektüre für die momentane, durch Corona geprägte Situation. Hartmut Rosa stellt die Grundthese auf, dass der moderne Mensch unablässig versucht, „die Welt in Reichweite zu bringen“. Genau dieses Phänomen erleben wir im Moment alle. Nämlich, dass wir die Welt nicht in unsere Reichweite bekommen, weil Corona nur sehr schwer zu kontrollieren und in den Griff zu bekommen ist.  Und wir sehen, wie einige bei dem Versuch verzweifeln, die Welt in Reichweite zu bekommen.

Kategorischer Imperativ der Reichweite

Rosa beschreibt das Mantra des modernen Lebens in Anlehnung an den kategorischen Imperativ von Kant: „Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird“ (S. 17). Damit wird die Welt als etwas zu Eroberndes. Rosa beschreibt demzufolge die Welt als Aggressionspunkt, auf den wir uns ausrichten, auf den wir zustreben. Wir sind auf die Strategie der Verfügbarmachung doppelt geeicht. Wir sind strukturell (von außen) dazu gezwungen und werden kulturell (von innen) dazu getrieben.

Wenn wir die Welt in Reichweite bekommen, droht sie stumm und fremd zu werden

Doch wenn wir unser Ziel erreicht haben, die Welt in Reichweite zu bekommen, dann ist uns der Erfolg im Sinne eines zufriedenen Gefühls nicht sicher. Ob wir dann Resonanz erleben oder uns diese Resonanz versagt bleibt, liegt außerhalb unseres Wirkens. „Ein Spezifikum der Resonanz ist es (…), dass sie sich weder sicher erzwingen noch garantiert verhindern läßt“ (S. 44). Resonanz impliziert die nicht sichere Verfügbarkeit – genau die also nur Halbverfügbarkeit.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren

Gerade weil die Welt maximal halb verfügbar ist, fühlt sie sich so lebendig an! Wir erleben immer wieder das Phänomen, dass Erreichbarkeit mit Verfügbarkeit verwechselt wird. Genau in dieser Verwechslung sieht Rosa die „Wurzel des Weltverstummens in der Moderne“ (S. 67).

Corona führt uns die Unverfügbarkeit der Welt vor Augen

Wenn ich die momentane Diskussion in Talkshows, in der Mittagspause mit Kollegen (selbstverständlich mit 1,5 Metern Sicherheitsabstand) oder im Freundeskreis (per Videokonferenzen) verfolge, dann hat viel der Emotionalität damit zu tun, dass die Unverfügbarkeit durch Corona deutlich empfunden wird. Mit Rosa könnte man die These aufstellen, dass es jetzt darum gehen könnte, diese Emotionalität in eine Akzeptanz des Unverfügbaren zu überführen. Dies könnte dann als Lebendigkeit erlebt werden…

Verfügbarmachen oder Geschehenlassen?

In der zweiten Hälfte seines Buches illustriert Rosa an sechs Stationen im Lebenslauf (Geburt, Erziehung und Bildung, Beziehung, Beruf, Alter und Pflege, Tod) „die unaufhebbare Spannung zwischen dem Versuch und dem Wunsch, Dinge und Ereignisse verfügbar zu machen, sie berechenbar und beherrschbar werden zu lassen, und der Ahnung oder Sehnsucht, sie als ´das Leben´ einfach geschehen zu lassen, auf sie zu hören und dann kreativ und spontan auf sie zu antworten“ (S. 71).

Es bleibt schwierig

Rosa schließt sein Werk mit einer fundierten Fokussierung der Problematik – leider ohne Lösungsvorschläge –, indem er zum Abschluss formuliert: „Unverfügbarkeit, die aus Prozessen der Verfügbarmachung hervorgegangen ist, erzeugt radikale Entfremdung. Das moderne Programm der Weltreichweitenvergrößerung, das die Welt in eine Ansammlung von Aggressionspunkten verwandelt hat, erzeugt daher auf gleich doppelte Weise die Furcht vor dem Weltverstummen und dem Weltverlust: Dort, wo ´alles verfügbar´ ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen, dort wo sie auf neue Weise unverfügbar geworden ist, können wir sie nicht mehr hören, weil sie nicht mehr erreichbar ist“ (S. 130f). Vielleicht bleibt uns damit nur die fortgesetzte Pendelbewegung zwischen den beiden Polen der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit und das Leben ereignet sich im Raum dazwischen?

 

Mich hat die Lektüre angeregt, meine eigene Motivationslage zu meiner Weltreichweitenvergrößerung zu reflektieren, was sich nicht nur bezüglich des C02-Fußabdruckes anbietet.

 

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